Dienstag, 2. Februar 2010

Das Tagebuch I

26. Januar 2010
Für jeden Tag ein Kreuz auf ein Kalenderblatt

114 schreibt Simone B. auf ein Kalenderblatt. Mit Kugelschreiber. Blau. Das Kalenderblatt trägt das Datum 17. Juni 2004. Die Sonne ist um 5.05 Uhr aufgegangen, um 21.41 Uhr geht sie unter. Simone B. ist seit fast vier Monaten in einer Außenwohnung der Therapeutischen Gemeinschaft Wilschenbruch. Schreibt zwei Tage später in ihr Tagebuch: „Heute ist Samstag, und es ist total beschissen. Ich habe das Gefühl, ich lasse Merlin in Stich. Aber was soll ich machen?“ Merlin ist der Sohn von Simone B. Vier Jahre alt. Sie darf ihn nicht sehen. Sie ist seit 114 Tagen in „Klausur“, verabschiedet sich von jedem Tag mit einem Kreuz auf einem Kalenderblatt. „Klausur“ nennt der Leiter der Einrichtung die Isolation von Patienten.


Fast sechs Jahre später sagt Simone B.: „Obwohl alles schon so lange her ist, muss ich immer wieder an diese Zeit denken. Ich bin zwar clean, aber die Zeit in Wilschenbruch hat auch einiges in der Seele kaputt gemacht.“ Daran können nach ihrem elfmonatigen Aufenthalt in der Einrichtung auch Psychologen nichts ändern. Ihre große Stütze ist eine Frau, die ebenfalls in der Therapeutischen Gemeinschaft Wilschenbruch gewesen ist: „Wenn ich bei ihr bin, reden wir viel über früher. Ich bin dann froh, dass ich einen Menschen habe, der das auch durchgemacht hat.“

Viermal ist sie in Wilschenbruch in „Klausur“ geschickt worden. Das erste Mal nach drei Wochen. Nach einem Kuss für einen Patienten. „Ihr hattet Sex“, behauptet das Team. „Hatten wir nicht“, sagt Simone B. heute noch. Sie wird von Merlin getrennt, muss den Tag unter einer Treppe verbringen und „über ihre Fehler nachdenken“. Noch schlimmer ist für sie die Trennung von ihrem Sohn: „Immer hatte ich Angst, habe gedacht, ich mache das alles nur für ihn.“

Teil 2

Tagebuch II

30. Januar 2010
Mutter darf ihren Sohn nicht grüßen

Wieder das Wort „Angst“. Auf dem Kalenderblatt vom 18. Juni 2004. Simone B. schreibt: „Heute bin ich in die Dachwohnung gezogen. Es ist alles Scheiße, und ich habe Angst vor dem, was kommt. Ich habe Angst davor, Merlin zu verlieren. Ich habe Angst davor, dass Merlin bald in eine Pflegefamilie kommt. Ich fühle mich absolut kalt und tot.“

Auch Simone B. berichtet, dass sich meistens andere Mütter um ihren Sohn gekümmert haben, der Leiter der Therapeutischen Gemeinschaft Wilschenbruch habe zu ihr gesagt: „Merlin habe ich jetzt unter meiner Obhut.“ Derlei nennt Professor Dr. phil. Ruthard Stachowske „familienorientierte Drogentherapie“. Die dem Bericht von Simone B. zufolge dazu führen kann: Merlin schläft in einem Nebenzimmer, darf aber nicht zu seiner Mutter.

Im Netz gibt es eine Suchmaschine für Therapie-Einrichtungen in Niedersachsen. Dort findet man auch die Therapeutische Gemeinschaft Wilschenbruch. Dafür sorgt die Therapiekette Niedersachsen, deren „Annahmestelle“ in Hannover laut männlicher Stimme auf einem Anrufbeantworter seit Ende 2009 geschlossen ist.

Per mail habe ich am 9. November 2009 diese Therapiekette um eine Stellungnahme zu den Schilderungen von Müttern gebeten. Fast drei Monate später bekam ich auf einem Briefbogen ohne Anschrift und ohne die üblichen Kontaktdaten diese Antwort: „Als Vorstandsvorsitzender der Therapiekette Niedersachsen bestätige ich den Eingang Ihrer Mail. Die von Ihnen in dieser Mail gemachten Aussagen bezüglich der Therapeutischen Gemeinschaft Wilschenbruch können wir nicht teilen. Johannes Harwardt“.

Würde bedeuten: Alle Mütter, die sich bis heute bei mir gemeldet haben, saugten sich ihre „Aussagen“ aus den Fingern, wie Simone B. ebenfalls diese: „Drei Wochen lang durfte ich meinen Sohn nicht einmal grüßen oder ihn in den Arm nehmen. Ich sollte einfach an ihm vorbeilaufen.“ Für die Therapeutische Gemeinschaft Wilschenbruch hatte sie sich nach ihren Worten aus diesem Grund entschieden: „Ich habe damals die Therapie gemacht, um meinem Sohn wieder näher zu sein.“ Damit habe sie nicht gerechnet: „Ich wusste damals nicht, dass man uns auseinander bringen wollte.“

Teil 3

Tagebuch III

2. Februar 2010
Nur ohne Sohn aus der Einrichtung

Nach elf Monaten beendet Simone B. ihren Aufenthalt in der Therapeutischen Gemeinschaft Wilschenbruch. Ihren Sohn will sie mitnehmen. Darf sie nicht: "Das Schlimmste war, ich sollte Merlin sagen, dass ich gehe. Er war völlig verstört."

In einer norddeutschen Großstadt kümmern sich Experten um sie, hören ihr zu, das Erstaunliche sei für sie gewesen: "Sie haben mir geglaubt." Das Jugendamt stellt Besuchskontakte mit Merlin her. Alle zwei Wochen fährt Simone B. nach Lüneburg.

Nach vier Monaten findet sie eine Pflegefamilie für ihren Sohn. Ein Jahr dauert die Nachsorge: "Dann konnte ich endlich wieder mit Merlin in einer eigenen Wohnung leben. Ich bin nie wieder rückfällig geworden."

Das Gespräch ist beendet, Simone B. sagt noch: "Ich bin bereit, vor Gericht auszusagen."