Samstag, 28. November 2009

Therapeutische Gemeinschaft Wilschenbruch (XXV)

Doch mit dem Buch kamen die Tränen (II)

Es ist Unsinn

sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe


Erich Fried
(Dichter)

Was es ist

Bestimme ich.

Sagt Ruthard Stachowske

(Philosoph)

Sonja Meier (Name geändert) hat von ihrem Freund einen Brief bekommen. Sie ahnt nicht: Davon gibt es viele. Diese Briefe sind ihr nicht ausgehändigt worden. Die bekommt sie erst, als sie die Therapeutische Gemeinschaft Wilschenbruch verlassen hat.

Sonja Meier liest den Brief ihres Freundes, es ist ein Abschiedsbrief. Gefühle stürmen auf sie ein: Wut, Enttäuschung, Eifersucht. Mit diesen Gefühlen lässt man sie allein. Sie versinkt, allein gelassen. Nicht zum ersten Mal.

Im System von Professor Dr. phil. Ruthard Stachowske ist wenig Platz für „Es ist, wie es ist, sagt die Liebe.“ Statt dessen empfiehlt er die Trennung. Eines Tages will der Leiter der Therapeutischen Gemeinschaft Wilschenbruch sogar den Vater von Sonja Meier verklagen. Dazu kommt es aber nicht. Ist im System von Stachowske auch nicht wichtig. Sein System funktioniert in den mir bekannten Fällen bei Müttern mit Kindern plus Partner so: Zweifel an der Beziehung säen und für die Kinder gedanklich schon einmal eine Pflegefamilie aussuchen. Das ist belegt. In Schriftstücken. Das macht Stachowske aber nicht allein. Dabei hilft immer wieder eine Mitarbeiterin.

Die ist selbst einmal drogensüchtig gewesen. Das scheint sie verdrängt zu haben. Sonst könnte sie dem Professor nicht zur Hand gehen, wenn in der Therapeutischen Gemeinschaft Wilschenbruch rechtsfreie Räume entstehen. Einer weiterer dieser rechtsfreien Räume sieht für Sonja Meier so aus: Obwohl sie nun keinen Freund mehr hat, muss sie täglich 1,50 Euro „Konsequenzgeld“ bezahlen, bis sie sich eine Spirale einsetzen lässt. Sie ist nicht die Einzige, die dazu gezwungen wird.

Der dritte rechtsfreie Raum. Auch Sonja Meier berichtet: „Ich musste eine freiwillige Sorgerechtsverzichtserklärung unterschreiben.“ Das ist strafbar, denn niemand darf sich als Richter aller Richter aufspielen. Sorgerechtsentzug ist im deutschen Rechtssystem immer noch das allerletzte juristische Mittel, das erst angewendet werden darf, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.

„Ich wollte immer alles richtig machen“, sagt Sonja Meier. Auch das hat ihr nicht geholfen. Sie wird im Drei-Phasen-System des Professor hin- und hergeschubst, mal lebt sie in einer Außenwohnung, dann wieder in der Einrichtung. Zwischendurch „Klausuren“. Allein in einem Raum unter dem Dach eines Hauses in Lüneburg.

Nach zwei Jahren endet ihre Leidensgeschichte. Nun ist sie in einer Selbsthilfegruppe. Sie bleibt in der Stadt. Nach einem halben Jahr sind ihre beiden Söhne wieder bei ihr. Dieses Mal hat das Jugendamt von Lüneburg dem Leiter der Therapeutischen Gemeinschaft Wilschenbruch die Stirn geboten. Das tun inzwischen auch andere Jugendämter. Nach einschlägigen Erfahrungen mit dieser Einrichtung.

Stimmt schon: Der Krug geht so lange zum therapeutischen Brunnen, bis jemand berichtet. Hinzu kommt: Betroffene bereiten gerade eine Sammelklage vor. Sonja Meier: „Ich bin dabei.“

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